Haben wir verlernt aufzusehen?

Ein Artikel von Jana Thann Weisheit

N: „Du bist so weise, ich möchte immer zu Deinen Füßen sitzen und Dir nur zuhören …“

E: „Ach mein liebes Kind, Weisheit ist kein Verdienst, es ist eine Alterserscheinung …“

Für mich ist es so tröstlich, zu Füßen einer weisen Person zu sitzen und zuzuhören oder auch nur zu sein.

Aber leider sind mir die alten, weisen Personen nach und nach abhanden gekommen, ich habe einen neuen Platz der stillen Weisheit zu Füßen von Bodhisattva Padmasambhava gefunden … aber er ist keine physische Realität …

Ich frage mich, ob die letzten alten Weisen mit unserer Großeltern-Generation ausgestorben sind, denn ich sehe nicht mehr oft welche …

Oder liegt es daran, dass wir sie im Altersheim versorgen und ihnen dort niemand zuhört, oder selbst wenn, dann ist der Lärm des Drumherum so laut, dass er die stille Weisheit übertönt.

Haben wir verlernt aufzusehen, weil es uns an alten, weisen Vorbildern mangelt, zu deren Füßen wir sitzen, denen wir unseren Kopf in den Schoß legen, zu denen aufsehen und von denen mit Trost, Stille und Zuversicht genährt werden?

Wenn wir nie gelernt haben, zu jemandem aufzusehen, weil da einfach niemand war, zu dem wir hätten aufsehen können, wie sollen wir dann jemals diesen wundervollen Ort des Trostes und der stillen Weisheit finden und kennenlernen? Und wie an unsere Kinder weitergeben?

Wir haben um so viel mehr Wissen als jemals eine Generation vor uns. Vielleicht glauben wir deshalb, dass wir die Weisheit der Älteren nicht mehr brauchen … die weniger wissen als wir …

Dass es dabei nicht um Wissen, sondern um Weisheit geht, ist uns nicht einmal bewusst, weil wir ja oft gar nicht wissen, was uns fehlt, wir haben es nie kennengelernt.

Daraus erwächst eine Gesellschaft, die krank ist an narzisstischen Persönlichkeiten, Selbstgefälligkeit, Egozentrik, Stolz und Rücksichtslosigkeit und das sind nur einige der unerfreulichen Nebenwirkungen dieser Entwicklung.

Wohin führt uns diese Entwicklung, dass wir glauben, bereits alles zu wissen und zu kennen?

Möglicherweise in die gleiche schmerzhafte Sackgasse der sterilen, lebensunfreundlichen Intelligenz, die bereits in anderen Bereichen, wie z.B. im Gesundheitswesen oder der Wirtschaft entstanden ist, nämlich dass keine Zeit und kein Raum mehr bleibt für Menschlichkeit und damit einhergehend Weisheit.

Und dann kommen die Weisen, aus dem Osten die Gurus und aus dem Westen die Erfolgstrainer, und zu denen können wir aufschauen, denn die sind erstens exotisch und zweitens reisen sie bald wieder ab, verweilen also nicht mit kritischem Blick auf unserem Tun. Wir müssen uns nicht rechtfertigen dafür, dass wir nichts von dem Gelernten umsetzen, und es gibt auch keine Verpflichtungen. Wir haben Eintritt bezahlt und „mehr kann von uns nicht verlangt werden“, damit haben wir unseren Teil scheinbar bereits erfüllt … nicht erkennend, dass es nicht um den Eintrittspreis geht …

Vor den fürsorglichen Blicken einer weisen Großmutter oder eines Großvaters hätten wir uns wohl nicht so einfach ausreden können.

Weisheit wird heute kostenpflichtig konsumiert und der „geistige Freund“, den wir in Oma oder Opa hatten, der uns unsere blinden Flecken, Schwächen und Untiefen aufzeigt und uns auf unserem Weg durch diesen inneren Dschungel hilft, den haben wir aus Bequemlichkeitsgründen erfolgreich aus unserem Leben entfernt. Es ist viel einfacher, für Weisheit zu bezahlen und dann nichts im eigenen Leben umzusetzen, nicht an sich und seiner persönlichen Entwicklung zu arbeiten und nichts zu ändern, zumal man ja eine gute Rechtfertigung hat: ich war bei dem Guru und bei dem Trainer und „das hat auch nichts geholfen“ … und damit kann man dann auch noch das Ego polieren, weil der Eintritt teuer war …

Ich wünsche uns allen, dass all jene, die gefangen sind im Geiste der sterilen, unmenschlichen Intelligenz des „Alles-Wissens“, einen tröstenden Schoß finden, der ihnen den inneren Frieden der wahren, freudvollen, kraftspendenden Demut* schenkt, und vor allem dass sie in der Lage sind, ihn zu erkennen und anzunehmen.

In anderen Kulturen ist das Aufsehen zu jemandem besser erhalten als in unserer westlichen Welt … es ist auch im 21. Jahrhundert noch möglich …

*Ich spreche nicht von der negativ behafteten, in christlichen Ländern verbreiteten Ansicht der erniedrigenden Demut, sondern von einer wohltuend reinen, klaren Form,  „seinen Platz gefunden zu haben“.

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