Kung Fu Yoga

Ein Artikel von Mag. Claudia Dieckmann

Kung-Fu Yoga – Exzerpt

 

Im Yoga gilt der Hauptsatz:  yogaś-citta-vr̥tti-nirodhaḥ (YS I.2).

Das zur Ruhe kommen der eigenen Gedanken über physische Bewegung ist eine wichtige Gemeinsamkeit von Yoga und Karate.

Gleichzeitig bedarf es sowohl im Yoga als auch im Karate einer gewissen Bereitschaft, sich zunächst einmal auf etwas Neues und Fremdes einzulassen, dabei nicht gleich aufzugeben und anfangs fremde Begriffe und Abfolgen zu lernen.

Dabei braucht es eine gewisse Disziplin, die letztendlich jedoch belohnt wird.

Die Parallelen zwischen Yoga und Karate gehen allerdings noch weit über diesen ersten Aspekt der geistigen Ruhe über körperliche Bewegung hinaus:

Auch wenn das Karate in der Form, wie wir es heute kennen, vom Buddhismus und der Kultur Japans bzw. der Insel Okinawa geprägt ist, so hat es seine Wurzeln in Indien und ist daher beeinflusst aus der indischen vedischen Kultur.

Der Überlieferung nach sollen bereits rund 3000 v. Chr. Mönche in Indien die Kampfbewegungen von Tieren genau beobachtet und daraus Techniken für einen waffenlosen Kampf Mann gegen Mann abgeleitet haben.

Diese Techniken finden sich bis heute in der indischen Kampfkunst Kalarippayattu wieder, die als die älteste, systematisierte Kampfkunst der Welt gilt.

Interessanterweise floss auch viel yogisches Denken, vor allem aus dem Yoga Sūtra und den Upaniṣaden, in das Kalarippayattu ein, ebenso wie ein reichhaltiger Wissensschatz aus dem Ayurveda, etwa über nāḍis und die besonders verletzlichen Marma-Punkte.

Im dritten Jahrhundert vor Christus, als der Buddhismus in Indien seine Blütezeit erlebte, trat auch die Ur-Kampfkunst ihren Weg Richtung Nordosten an.

Der indische nch Bodhidharma reiste auf der Seidenstraße über den Himalaya in das bis heute berühmte Kloster Shaolin in der Provinz Henan.

Dort brachte er den Mönchen bei, die Sūtren aus dem Yoga und dem Buddhismus ins Chinesische zu übersetzen, und lehrte sie Techniken aus dem Kalarippayattu zur Körperertüchtigung und Geistesschulung.

Zahlreiche Kriege und Konflikte im alten China führten über die Jahrhunderte hinweg dazu, dass das Kloster mehrmals zerstört wurde und die Mönche fliehen mussten.

Dabei wurden viele alte Texte zerstört, sodass unser heutiges Wissen über die Geschichte des Karate, aber auch des Kung Fu oder Taekwondo, nicht vollständig ist.

Das moderne Karate entstand schließlich aus einer Abspaltung der Ur-Kampfkunst.

Diese wurde auf Okinawa perfektioniert, systematisiert und zu dem weiterentwickelt, was wir heute als Karate kennen: Kampfkunst mit starker philosophischer Ausrichtung

Karate wird übersetzt als „der Weg der leeren Hand“.

Dabei ist das japanische Schriftzeichen, das für die Silbe „kara“ (leer) steht, dasselbe wie das, welches im Zen-Buddhismus „satori“ bedeutet:

ein Zustand der „Loslösung von allen Dingen der sinnlichen und intellektuellen Erfahrung“, der auch als Erleuchtung bezeichnet wird.

Im Yoga kennen wir diesen Zustand ebenfalls  – als Samādhi.

Für das Shōtōkan-Karate spielte im 20. Jahrhundert Gichin Funakoshi (1868 – 1957) eine große Rolle.

Funakoshi schrieb neben zahlreichen Grundlagenwerken auch das Fundament der Karate-Philosophie, die 20 Shōtō-Niju-Kun.

In diesen 20 Versen fasst er zusammen, was Karate ausmacht.

Dabei legt er großen Wert darauf, dass vor allem der spirituell-philosophische Aspekt das Training prägen sollte und so die Kampfkunst zu einem persönlichen Lebensweg entwickelt wird.

An dieser Stelle ergeben sich weitere Parallelen zum Yoga.

Während sich über den Begriff „satori“ bereits klar zeigt, dass Yoga und Karate dasselbe Ziel haben, wird bei näherer Betrachtung deutlich, dass sich auch der Weg dort hin stark ähnelt.

 

Shōtō-Niju-Kun und Yoga Sūtra

Die Beschreibung dieses Weges bzw. der Parallelen lässt sich sehr gut anhand von zwei Grundlagentexten des Karate bzw. Yoga illustrieren.

So schreibt Funakoshi bereits in Vers 1:

„Der Weg des Karate beginnt und endet mit Respekt“.

Rei (japanisch für Respekt) ist dabei das, was eine Kampfkunst von roher Gewalt unterscheidet.

Rei ist es auch, was den Aspekt von ahiṁsā in das Karate bringt:

ahisā steht für Gewaltlosigkeit.

Pure Gewalt ist genau das, was im Training und in der Anwendung jeder Kampfkunst absolut unangemessen ist.

„Jemand, der nur an sich denkt und taktlos ist, ist unfähig, Karate-dô zu erlernen“, schreibt Funakoshi dazu auch in seiner Autobiografie.

Im Karate-dô wie im Yoga geht es darum, sich des Kampfes gegen sich selbst (die eigene niedere Natur) bewusst zu werden.

Das bedeutet einerseits zu erkennen, wo man sich selbst sabotiert, mit eigenen Gedanken das Leben schwer macht, oder sich Chancen und Möglichkeiten wurzelnd auf avidyā (Nichtwissen) verbaut, andererseits in einer Art friedlichem Kampf, um das mächtige Ego eventuell eines Tages zu besiegen.

Das Motiv der Gewaltlosigkeit zieht sich auch durch die folgenden Verse des Shōtō-Niju-Kun.

So lautet der zweite Satz:

„Im Karate gibt es keinen ersten Angriff.“

Der Kampf als Konfrontation sollte absolut vermieden werden, also einmal mehr ahiṁsā.

Stattdessen gilt es laut Funakoshi, die Qualitäten von Geduld, Nachsicht und liebevolle Güte als oberstes Ziel zu praktizieren und zu pflegen.

Genau das sind die Qualitäten, die wir auch im Yoga Sūtra in I.33 in den vier bhavanas wiederfinden.

Funakoshi selbst setzte sich mit großer Strenge für die Grundregel des Karate ein und verbot beispielsweise seinen Schülern, sich auf oberflächliche Wettkämpfe zum Kräftemessen einzulassen, oder im Alltag vorschnell die Waffe des Körpers einzusetzen.

Unabhängig von der Situation wurde jeder Schüler sofort ausgeschlossen, wenn er sich in einen Kampf verwickeln ließ.

Letztendlich geht es im Karate vor allem um Aufmerksamkeit und einen achtsamen Umgang mit sich selbst und anderen – eine weitere Brücke zum Yoga.

Wer Yoga praktiziert, übt, Achtsamkeit zu kultivieren.

Wir atmen bewusst, bewegen uns achtsam, respektieren unsere eigenen Grenzen.

Auch im Karate werden wir immer wieder an die Achtsamkeit erinnert, vor allem im Bewusstsein, wie gefährlich die Anwendung einer Kampftechnik im äußersten Fall werden kann.

 

Shoto-Niju-Kun (20 Regeln) nach Gijin Funakoshi

  1. Vergiss nie: Karate beginnt mit Respekt und endet mit Respekt.
  2. Im Karate gibt es keinen ersten Angriff.
  3. Karate ist ein Helfer der Gerechtigkeit.
  4. Erkenne dich selbst zuerst, dann den anderen.
  5. Die Kunst des Geistes kommt vor der Kunst der Technik.
  6. Lerne, deinen Geist zu kontrollieren, und befreie ihn von Unnützem.
  7. Unheil entsteht durch Nachlässigkeit.
  8. Karate ist nicht nur im Dojo.
  9. Die Ausbildung im Karate umfasst Dein ganzes Leben.
  10. Verbinde dein alltägliches Leben mit Karate, das ist der Zauber der Kunst.
  11. Wahres Karate ist wie heißes Wasser, das abkühlt, wenn du es nicht ständig wärmst.
  12. Denke nicht ans Gewinnen, doch denke darüber nach, wie du nicht verlierst.
  13. Wandle dich, abhängig von deinem Gegner.
  14. Der Kampf hängt von der Handhabung deiner Treffsicherheit ab.
  15. Stelle dir deine Hand und deinen Fuß als Schwert vor.
  16. Wenn man das Tor der Jugend verlässt, hat man viele Gegner.
  17. Das Einnehmen einer Haltung gibt es beim Einsteiger, später gibt es den natürlichen Zustand.
  18. Übe die Kata korrekt, der echte Kampf ist eine andere Angelegenheit.
  19. Hart und weich, Spannung und Entspannung, langsam und schnell, alles in Verbindung mit der richtigen Atmung.
  20. Denke immer nach und versuche dich ständig am Neuen.